Wie schon im letzten Jahr habe ich, auch für mich, wieder einen kleinen Jahresrückblick geschrieben, den ich gerne auch hier teile. Alles in alphabetischer Reihenfolge:
A.A.L. (Against All Logic) - 2012-2017: Einerseits tönt hier alles klar nach Genre-Connaisseur Nicolas Jaar, andererseits erscheint es dennoch absolut schlüssig, dass diese in den letzten Jahren entstandene Song-Kollektion eben nicht unter seinem Klarnamen erscheint. Sind die House-Elemente bei dem in Chile aufgewachsenen Künstler doch für gewöhnlich fein versteckt in ein komplexes Ganzes eingewoben, könnten sie einem hier nicht offensichtlicher ins Gesicht springen. Ja, trägt der erste Song den Genre-Tag hier sogar wortwörtlich im Titel. Kanye West, Jorge (≠ Carlos) Santana und viele mehr werden hier in akribischer Samplingkunst in das Beste, das elektronische Musik in diesem Jahr zu bieten hat überführt. Dieses Album ist nicht für den Dancefloor - es ist der Dancefloor.
(Hören: "Cityfade")
Beach House - 7: Ja sicher, Beach House zu mögen erscheint in der heutigen Indie-Welt irgendwo schon fast ein wenig trivial, wird das Duo aus Baltimore doch sowieso schon seit Jahren von Kritikerinnen und Fans gleichermaßen an allen meinungsäußernden Ecken und Enden in den metaphorischen Genre-Himmel gelobt. Und auch mit „7“ ändert sich daran: Richtig, überhaupt gar nichts. Zwar ist hier alles etwas elektronischer angehaucht und auch die Produktion erschließt in ihrer Dichtheit neue Sphären, aber dennoch wabert auch hier die bekannte, ganz eigene Mischung aus Dream Pop und Shoegaze, garniert mit der gehauchten, tiefen Stimme Victoria Legrands in jedem Takt. Nicht mein persönlicher Liebling aus dem Beach House-Klangkosmos, aber dennoch ganz zweifellos eines der wunderschönsten Alben des Jahres.
(Hören: "Drunk in LA")
Black Thought - Streams of Thought, Vol. 1 [EP] & Streams of Thought, Vol. 2 [EP]: Auch, wenn auf „DAYTONA“ insgesamt die interessanteren Instrumentals zu finden sind, ist die „Streams of Thought“-EP-Serie wohl mein Hip-Hop-Release des Jahres. Der Grund dafür befindet sich vor dem Mic: Pusha T ist ein guter MC, aber Black Thought ist einer der absolut besten. Bis zu seinem Flex-Freestyle im letzten Jahr gefühlt immer etwas außen vorgelassen, wenn über die Allergrößten der Zunft diskutiert wurde, zeigt der Chef-Texter von The Roots, als hätte er das überhaupt noch nötig, auf seine tatsächlich ersten Solo-Releases, wie falsch all die Ignoranten doch schon immer lagen. Ein fantastisches Boom-Rap-Kleinod mit mal politischen, mal autobiografischen Texten, vorgetragen auf allerhöchstem Niveau.
(Hören: "Thank You")
Floex & Tom Hodge - A Portrait of John Doe: Die beiden passionierten Klang-Ingenieure Tomáš Dvořák und Tom Hodge schließen sich mit dem Prague Radio Symphony Orchestra zusammen und heraus kommt was? Nicht so leicht zu sagen. „A Portrait of John Doe“ ist ein grenzgängerisches Werk zwischen elektronischer Musik und Neo-Klassik. Die Assoziationen huschen kaum merklich zwischen Sampling-Kunst im Boards of Canada-Stil, den weniger tanzbaren Nicolas Jaar-Momenten und klassischer orchestraler Musik hin und wieder her. Eine faszinierende, ruhige Kollaboration, die ganz nebenbei noch den Award für das hübscheste Album-Cover des Jahres einheimsen darf.
(Hören: "Inauguration Of Nobody")
Fucked Up - Dose Your Dreams: Ein 82-minütiger Punkrock-Fiebertraum, bei dem die großartigste aller „Hardcore für Nicht-Hardcore-Hörer“-Combos aus Toronto, Ontrario, Canada nun endgültig auch auf die letzten Genrekonventionen zu pfeifen scheint und dem konservativen Gitarrenliebhaber das Zimmer mit dermaßen vielen Marimbas, Saxofonen und Elektro-Frickeleien vollstellt, dass am Ende nun wirklich kaum ein Stück Gewohnheits-Komfortzone übrig zu bleiben scheint. Mit der Direktheit des Vorgängers wurden nichts als falsche Fährten gelegt, nur um am Ende doch wieder an die vor Wahnsinn und Selbstüberschätzung triefenden Punk-Operetten von „David Comes To Life“ anzuknüpfen und diese sogar noch auszubauen. Besser denn je!
(Hören: "Normal People")
Hop Along - Bark Your Head Off, Dog: Das beste klassische Indie Rock-Album des Jahres. Punkt. Kreative Gitarrensymbiose zwischen Pavement, Built To Spill und anderen Genregrößen der 90er-Jahre, wunderbare kreative Lyrics, Songwriting, das den auch wirklich Namen verdient, und alles garniert mit den unvergleichlichen Stimmauslügen von Cheftexterin Frances Quinlan. Die (ebenfalls tolle) Straigtforwardness des Vorgängers wurde dabei insgesamt gegen eine etwas facettenreichere Instrumentierung eingetauscht, ohne dabei etwas an der Grundstimmung der Band zu ändern. Summa summarum: Hop Along spielen weiterhin mehrere Ligen höher, als die oft zum Vergleich heranzitierten Genrekolleginnen von Camp Cope, Snail Mail und Co.
(Hören: "One That Suits Me")
Kamasi Washington - Heaven & Earth: Ein Album, das genaugenommen zwei Probleme hat: Die beiden Vorgänger. Denn die waren noch ein kleines Stück besser. Ansonsten erfindet sich Kamasi Washington hier nicht neu und revolutioniert auch den Jazz nicht (hat er bisher auch nie), sondern liefert die wundervolle Mischung aus Spritual Jazz und Fusion, an deren Wohlklang sich unsere Ohren bereits gewöhnt haben. Tony Austin an den Drums, Cameron Graves an den Keys, Ryan Porter an der Posaune und auch Thundercat taucht hier und dort auf - die bekannte Bagage des Kamasi-Universums hat sich versammelt und zeigt mal wieder, warum sie das vielleicht meistbesprochene Jazz-Kollektiv der Gegenwart darstellen.
(Hören: "Street Fighter Mas")
Kurt Vile - Bottle It In: Nachdem Herr Vile (und Frau Barnett) vor lauter Freundschaftszelebrierung und Slackertum auf „Lotta Sea Lice“ das Schreiben wirklich guter Songs leider ein wenig vernachlässigt hatte, kommt der geneigte Freund wunderbar verspulter Indiemixturen auf „Bottle It In“ endlich wieder vollends auf seine Kosten. Wieder einmal mischen sich ausufernde Neunminüter mit eingängigen Folksongs und ergeben sein wunderbar vor sich hin pluckerndes Ganzes. Selten wurde das Paradox von scheinbar nebensächlicher, entspannter Ideenfindung und doch gleichzeitig wahnsinnig detailreichem und durchexerziertem Songwriting klanglich eleganter aufgelöst als hier. Ein Album komponiert für die letzten warmen Sommertage des Jahres.
(Hören: "Bassackwards")
Low - Double Negative: So wenig Wahrheit und Wohlklang man in spätkapitlistischen Gesellschaften zur Weihnachtszeit auch finden zu vermag, auf eines ist noch immer Verlass: Um all der Hektik, all dem Trubel zu entfliehen hüllt man sich am besten in eine warme Wolldecke und legt eine Platte der Slowcore-Veteranen von Low auf. Zwar ist „Double Negative“ mit all seinen Drone- und Ambientelementen und seinem selbst für Low-Verhältnisse äußerst minimalistischen Songwriting das bisher wohl gewagteste (und vielleicht auch beste) Album des kongenialen Trios, letztlich entkommt man dem wohlbekannten Gefühl des winterlichen Angekommen-Seins, des fast schon meditativen zu Ruhe Kommens aber auch hier nicht. Also nicht verzagen: Trotz des etwas avangardistischen Erscheinungsbildes, sind die elf neuen Songs, deren karger Wohlklang sich wie ein behutsames Rauschen auf die Ohren legt, noch immer nahbar und erschüttern die eigenen Gefühle unmittelbar und zutiefst.
(Hören: "Fly")
The Messthetics - The Messthetics: Drummer Brendan Canty und Bassist Joe Lally, ihres Zeichens das rhythmische Grundgerüst der noch immer und überall fehlenden Hardcore-Veteranen von Fugazi, tun sich mit dem experimentellen Washingtoner Jazz-Gitarristen Anthony Pirog zusammen und nehmen ein rein instrumentales Album auf. Das klingt: Eigentlich wie erwartet. Das sich zwischen Sparsamkeit und Komplexität bewegende Bassspiel sowie Drumming weckt ab Sekunde eins starke Assoziationen zur Stammband der beiden Akteure und wird bereichert durch das mal jazzige, mal krautrockige Gitarrenspiel von Pirog. Die Chemie, die dabei zwischen den Dreien entsteht, schreit am Ende nur eines: Konzert. Jetzt. Sofort.
(Hören: "The Inner Ocean")
Ryan Porter - The Optimist: Die gleichen Leute, die schon an den Aufnahmen von Kamasi Washingtons Jazz-Breaktrough „The Epic“ beteiligt waren (inklusive Kamasi himself) schließen sich im schweißtriefenden Hochsommer im Haus von Kamasis Mutter ein und nehmen in einem völlig überfüllten Zimmer, mit Fluglärm-Unterbrechungen im 15-Minutentakt, unter der Regie von Jazzposaunist Ryan Porter das wohl coolste Album des Jahres auf. Jeder servierte Songcocktail trieft vor Spielfreude und der Geist John Coltranes scheint allgegenwärtig. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, sogar noch stärker als Kamasis Eigenkreation aus diesem Jahr.
(Hören: "Night Court in Compton")
Tim Hecker - Konoyo: Stars of the Lid sind inaktiv, Terry Riley ist zu alt, Aphex Twin bringt es nicht mehr so recht und die Zeit von Brian Eno scheint mit BDS-Kampagnenarbeit und dem Verfassen wirrer Israel-Statements ebenfalls vollständig ausgefüllt zu sein. Die Rettung des Ambient-Genres liegt also (mal wieder) in den Händen Tim Heckers. Die Sidekicks, die dem Ambient-Helden für diese heldenhafte Aufgabe in diesem Jahr zu Seiten stehen, sind ein Satz uralter Streich-, Holzblas- und Gagaku-Instrumente aus Japan. Wie eh und je: Alles fließt, alles harmoniert und die Grenzen des Klangs werden Stück für Stück neu verhandelt. Ein wunderbares Hörerlebnis.
(Hören: "In Mother Earth Phase")
Ebenfalls hörenswert:
Autechre - NTS Sessions 1-4: Vier Sessions, 36 Stücke, 479 Minuten. Wer sich schon immer mal überfordern wollte, ist auch in diesem Jahr bei den Electronic-Pionieren an der richtigen Adresse.
Earl Sweatshirt - Some Rap Songs: Kurze 22 Minuten von Madlib inspirierte Beats, über die Earl in seiner unnachahmlichen Art drüber rappt. Sehr gut!
Janelle Monáe - Dirty Computer: Weniger Genresprünge, mehr klarer Pop, direktere Texte, noch immer eine der tollsten Künstlerinnen der Gegenwart. So einfach.
Josh T. Pearson - The Straight Hits!: Eine der großartigsten Stimmen unserer Zeit (und auch einer der besten Lyriker) liefert wie eh und je. Das Lift to Expirience-Comeback hätte es so wohl überhaupt nicht gebraucht.
Kero Kero Bonito - Time ’n’ Place: Lyrisch und musikalisch merklich gereift, liefern Kero Kero Bonito mit „Time ‚n‘ Place“ einen wunderbaren Hybrid aus Twee-Pop und J-Pop-Elementen. Unterschätzt.
Parquet Courts - Wide Awake!: Der punkige Einfluss rückt ein wenig in den Hintergrund und sogar Pianos kann man nun hören. Was bleibt: Eine der interessantesten Bands der Gegenwart.
The Sea and Cake - Any Day: Nach einigen mediokeren Vorgängern findet die Jazz-Pop-Kombo um Tortoise-Drummer John McEntire wieder zu alter Stärke. Entspannt und komplex.
Sons of Kemet - Your Queen Is A Reptile: Funkiger Afro-Jazz, bei dem jeder der neun Songs einer schwarzen, weiblichen Identifikationsfigur gewidmet ist.
Spiritualized - And Nothing Hurt: Spiritualized liefern das Erwartbare und das Erwartbare ist sehr gut. Einziges Problem: Hier und dort schmeckt der Kaffee ein wenig aufgewärmt.
Tropical Fuck Storm - A Laughing Death in Meatspace: Die Noise-Rock-Veteranen The Drones geben sich einen neuen Namen und zelebrieren den Weltuntergang. Selten war ein Name mehr Programm.
Various Artists - We Out Here: Abermals präsentiert sich die Londoner Jazz-Szene unter der Schirmherrschaft von DJ und Jazz-Aficionado Gilles Peterson von seiner schönsten Seite.
Yo La Tengo - There’s a Riot Going On: Die noisigen Gitarren über weite Strecken im Koffer verstaut, versorgt uns die sympathischste Band der Welt 2018 mit einem wunderbar gemütlichen Ambient Pop Album.